Nases Tod

Sie trennten sich vor der schmalen Scheunentür. Milan verschwand schnell nach rechts, Grau reckte sich erst einmal genüsslich, als wäre er gerade erst aufgestanden. Im Osten war trotz des Regens und des nur noch entfernt grollenden Donners am Himmel schon ein heller Streifen. Der Tag kam.

Sie ist der Typ Frau, der eigentlich nicht zu dir passt, dachte er. Sie ist genau von der Sorte, über die du dich dein Leben lang lustig gemacht hast. Jetzt latschst du hier durch die Dunkelheit, um dich für sie verprügeln zu lassen. Das ist irgendwie schrecklich antiquiert, und komisch ist es auch.

Er erreichte die Hausecke und blieb stehen. Er musste sich für den unbekannten Beobachter so benehmen, als pirschte er wie ein Indianer durch die Landschaft. Wie Winnetou in Bad Segeberg, dachte er mit matter Verachtung.

Er stand im tiefschwarzen Schatten und hielt es für unmöglich, dass irgendjemand seine Umrisse erkennen konnte. Ungefähr dreißig Meter von der Schmalseite des Hauses entfernt ragte dichtes Gebüsch auf. Es sah aus wie ein Haselnussstrauch. Wenn jemand irgendwo lauert, dann dort, überlegte er. Von dort kann er die erleuchteten Fenster beobachten und auch das Auto von Nase. Von diesem Platz aus hat er auch uns entdeckt, als wir um das Haus geschlichen sind und die Reifen platt gestochen haben.

Er spürte keine Furcht, nur den plötzlich stark ausgeprägten Ehrgeiz, schnell in die Nähe von Meike zu kommen. Wir wissen nicht, wie sie gefangen gehalten wird, überlegte er. Wahrscheinlich haben die neuen Kidnapper sie nicht einmal gefesselt oder irgendwie schachmatt gesetzt, weil sie sich so sicher fühlen. Wahrscheinlich haben sie Meike einfach irgendwo eingeschlossen. Wenn dieser Unbekannte auf den Knopf drückt, wird sie durch die Wand geblasen, die wilde, wunderschöne Meike, einfach so.

Er machte drei Schritte vorwärts und sah zu den Fenstern hoch. Das Licht brannte noch immer, nichts hatte sich verändert. Dann ging er weitere drei Schritte nach vorn, sah sich um, betrachtete erneut die Fenster, drehte sich wieder um und starrte genau auf den Haselnussstrauch.

Er muss nachvollziehen können, was ich denke, überlegte er verbissen. Er muss begreifen, dass ich mir als ideales Versteck genau den Platz in den Kopf gesetzt habe, an dem er gerade steht.

Plötzlich hatte er den Eindruck, dass sich links von ihm ein Schatten im Gebüsch abzeichnete. Aber das bildete er sich wohl nur ein, wahrscheinlich saß Milan diesem Unbekannten längst im Nacken.

Was ist, wenn er ihn tötet? Nein, das wird er nicht tun. Er weiß, dass wir aus dem Mann noch alles rausquetschen müssen. Er wird ihn nicht töten!

Grau behielt hinter sich das Haus im Auge und machte vorsichtig Schritt für Schritt, dann stand er endlich vor dem Busch.

»Es ist eine Frau«, sagte Milan leise und heiter.

»Eine Frau? Wirklich?«

»Was ich hier im Schwitzkasten habe, ist eine Frau«, betonte Milan.

»Hast du den … wie heißt doch dieses Ding noch gleich?« Grau war erstaunt, wie gemütlich die ganze Szene auf ihn wirkte. Mit Milan waren diese Dinge ungeheuer leicht. »Ach ja, den Knopf, auf den sie drücken muss?«

»Nein, noch nicht. Sie liegt hier einfach, sie schläft, sie hat eine Waffe, zwei Waffen, sie hat, warte mal, hier ist … Grau, verdammt noch mal, geh doch mal da weg, sie sehen dich sofort, wenn sie ans Fenster gehen. Sie hat, also hier ist … Oh, Scheiße, Grau!« Die letzten Worte schrie er.

Grau drehte sich blitzschnell um. Eine furchtbare Sekunde lang schien die Welt stillzustehen, dann klappte das Dach des Hauses hoch. Die erste berstende Detonation schien an der Grenze zur Scheune hochzugehen. Das Verrückte war, dass es in den Bruchteilen dieser ersten Sekunde nachtschwarz blieb. Dann blitzte es grell, das Dach senkte sich, um sofort darauf wieder hochzuklappen, als öffnete ein Riese eine Pappschachtel. Danach schoss eine grelle Flammenzunge hoch in den nassen Himmel, die nächste Detonation folgte, dann noch eine.

»Milan!«, schrie Grau mit sich überschlagender Stimme. »Meike!« Das Haus war sofort eine brennende Hölle, nur im vorderen Teil war es noch dunkel. Ein Mensch schrie wie verrückt im Diskant, es klang wie »Mama!«.

Grau lief sofort auf die Haustür zu. Es war eine dunkelgrün lackierte Tür mit Butzenscheiben und vielen Messingbeschlägen. Sie war garantiert verschlossen. Er drehte sich in vollem Lauf nach vorn und rammte seine rechte Schulter gegen die Tür. Sie hielt stand. Grau atmete pfeifend aus, der Schmerz stach bis in seine Hüfte.

Über ihm detonierten Fenster, barsten und knallten in Einzelteilen herunter auf die uralten Katzenkopfsteine, mit denen der Eingangsbereich gepflastert war. Ein Stück Fensterrahmen schlug auf seine linke Schulter, aber er spürte keinen Schmerz. Er starrte verblüfft hoch, Glassplitter regneten auf ihn herab. Jemand schrie erneut hoch und grell »Mama!«, dann kam ein flammendes Bündel angeflogen, ein Mensch, der brannte.

»Mein Gott, nein!«, schrie Grau. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Milan rechts von ihm vorbeiflitzte und in einer schier wahnwitzig gleitenden Bewegung mit einer Hechtrolle durch das neben der Eingangstür liegende, geschlossene Fenster flog und dahinter verschwand.

Der Verletzte schrie und wälzte sich auf den nassen Steinen. Grau wollte unbedingt, dass er aufhörte zu schreien und zu sterben. Er warf sich neben den Körper und versuchte, mit bloßen Händen die Flammen zu ersticken. Er sah in ein von Schmerzen verzerrtes Gesicht.

Grau hatte den Bruchteil einer Sekunde lang die Idee, er müsste das Gesicht zum Schweigen bringen. Dann schwieg es von selbst und die Welt war für einen Moment schrecklich still. Das Gesicht war tiefschwarz verkohlt und blutrot verbrannt, Grau hätte nicht sagen können, ob es ein junges Gesicht war oder ein altes.

»Nein, nein, nein!«, schluchzte und keuchte er. Dann hörte er Milan im Innern des Hauses seinen Namen brüllen. Er richtete sich mechanisch wieder auf und trat mit dem Fuß die Scheiben der Tür ein. Dann fasste er durch die gezackten Scherben und klinkte die Tür auf. Einen Augenblick lang war es merkwürdig still, dann hörte Grau einen anderen Mann schreien und er sah das Feuer auf den obersten Stufen der Treppe lodern.

Rechts von ihm kam Milan aus einer Tür geschossen und schrie merkwürdig sachlich: »Das überlebt keiner!«

Grau erreichte die Treppe und rannte hinauf. Das Erste, was er sah, war der Himmel, das Dach war verschwunden. Überall um ihn herum schlugen Flammen empor.

Milan stieß ihn vorwärts. »Sie muss links sein!«, rief er. »Geh nach links!«

Grau umging einen kleinen Flammenherd und stand vor einer verschlossenen Tür. Er trat gegen das Schloss und die Tür sprang auf. Er sah in den Himmel, er merkte, wie der Regen sehr dünn und schräg in das Zimmer fiel. An der rechten Wand brannte die Tapete. Daneben stand eine Art Feldbett mit einem Haufen Decken.

Meike lehnte mit weit aufgerissenen Augen an der linken Wand und wirkte völlig abwesend. Sie trug noch immer die weiße Bluse, aber sie hing in Fetzen an ihr herunter. Ihre linke Brust war nackt und schimmerte weiß. Ihr Gesicht war erschreckend blass und staubbedeckt. Schwarze Schlieren zeichneten die Linien ihrer Haut nach. Merkwürdigerweise fehlte das rechte Hosenbein ihrer Jeans, oberhalb des Knies sah Grau eine stark blutende Wunde. Das Blut war rabenschwarz und glänzte.

»Gott sei Dank«, krächzte Grau. Er spuckte Staub. »Komm her, wir müssen hier raus.«

Sie reagierte überhaupt nicht, sie sah ihn nicht einmal an. Milan erschien auf der Schwelle und befahl rau: »Los, abhauen!«

»Sie erkennt mich nicht«, sagte Grau tonlos.

»Wie denn?«, fragte Milan. Er ging an Grau vorbei, nahm Meike hoch wie ein Paket und trug sie hinaus.

»Was ist denn mit den anderen?«, wollte Grau wissen.

»Weiß nicht genau. Wir müssen weg, wir brauchen den Wagen. Holst du ihn?«

Grau drehte sich um und rannte los. Kurz vor der Treppe geriet er ins Straucheln, weil ein Loch im Fußboden war. Er schlug lang hin, stand wieder auf und stürzte die Stufen hinunter. Das Haus brannte jetzt auf allen Ebenen, auch die Scheune stand lichterloh in Flammen.

Grau hastete weiter, bog vom Weg ab, um abzukürzen, und geriet in einen Bach, den er bis zur Hüfte im Wasser durchquerte. Es ging über eine Wiese, dann erreichte er den Wald und stand vor dem Wagen. Einen panischen Augenblick lang befürchtete er, die Schlüssel verloren zu haben, dann fand er sie und schloss die Fahrertür auf. Er fuhr auf den Weg und gab Vollgas. Das hatte zur Folge, dass er auf dem schlammigen Untergrund gegen eine Böschung rutschte.

»Mach langsam, verdammt noch mal!«, ermahnte er sich laut fluchend. Er ließ den Wagen vor dem brennenden Haus ausrollen, Milan öffnete den hinteren Schlag und bugsierte Meike hinein.

»Wo ist diese Frau, die Dynamit-Frau?«

»Ich hole sie.« Milan ging und kam mit der Frau auf den Armen zurück.

»Was ist denn mit Nase?«, fragte Grau. »Wir können diese Leute doch nicht alle verbrennen lassen!« Er starrte auf die Reste des Menschen, der vor seinen Augen brennend aus dem Fenster gestürzt war.

Milan murmelte gefährlich ruhig: »Willst du wieder Heftpflaster kleben? Sie sind tot, sie sind kaputt. Genau unter ihnen war eine Ladung.«

»Bist du sicher?«, fragte Grau zittrig.

»Ich habe sie gesehen!«, schrie Milan wütend. »Ich schwöre, ich habe sie gesehen! Wo ist das Telefon?«

»Was weiß ich?«, entgegnete Grau ruppig. Er gab Gas.

»Wir brauchen es«, forderte Milan. »Wir brauchen es sofort. Los, fahr schon, ich suche es. Mein Gott, Grau!«

»Irgendwo im Wagen. Entschuldige.« Grau sah im Spiegel Meikes Gesicht. Es war vollkommen weiß und ihre Augen waren noch immer weit offen. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie tot sei. Dann aber wischte sie sich mit einer müden Bewegung irgendetwas vom Kinn.

»Warum ist plötzlich alles hochgegangen?«, fragte er.

»Die Frau lag auf dem Kasten mit dem Zündkontakt«, sagte Milan. »Fahr jetzt nicht nach rechts. Von rechts kommt die Feuerwehr, wenn sie kommt. Du musst versuchen, möglichst weit weg ins Land zu fahren. Die Frau lag auf dem Kasten, ich habe sie bewegt, dann passierte es. Verdammt noch mal, es ging nicht anders.« Milan schlug sich heftig auf die Knie.

»Schon gut«, sagte Grau. »Warte, das Telefon ist in der linken Jackentasche.« Er holte es heraus und gab es Milan.

»Du hast die Scheinwerfer nicht an«, mahnte Milan.

»Richtig. Ich warte absichtlich damit.«

»Das ist gut«, lobte Milan sachlich, »das ist richtig gut.« Er wählte eine Nummer und verlangte Geronimo. »Hör zu«, sagte er kühl, »hör zu und konzentrier dich. Stell keine dummen Fragen, wir haben keine Zeit. Wir haben Meike rausgeholt. Nase ist tot. Die anderen beiden auch. Wir haben Meike hier im Wagen, sie ist sicher. Und wir haben eine zweite Frau im Wagen. Sie ist noch bewusstlos, aber blinzelt schon wieder. Sie hat einen Sprengsatz gelegt wie eine Partisanin. Ungefähr eins sechzig groß, ungefähr dreißig Jahre alt. Rot gefärbtes Haar mit, wie sagt man? Ach ja, Henna. Hübsch. Trägt schwarze Jeans, schwarzen Rollkragenpullover. Hatte zwei Waffen, Profiwaffen. Zimmerflak, du verstehst schon, und ein Messer.

Jetzt sei nicht aufgeregt und frage mich nicht, sei ganz cool, Junge. Wir sind jetzt auf Straße Nummer hundertzweiundneunzig. Nächste Stadt heißt Waren. Nix Autobahn, viel zu riskant jetzt. Hast du die Straße? Gut. Wir brauchen Route und Treffpunkt mit deinen Leuten, klar? Also langsam, Grau muss es mitkriegen, er fährt. Also Waren, Neustrelitz, Fürstenberg, Gransee, Oranienburg. – Wo? – Also gut, Sachsenhausen rechts. Wir kommen, also, ich mache Schluss.«

»Milan«, gestand Grau zögernd, »ich glaube, ich muss mal eine Pause machen.« Er fuhr zehn Meter in einen Wiesenweg hinein und hielt. Er stieg aus und stand da mit gebeugtem Kopf und gesenkten Schultern. Dann machte er noch ein paar Schritte und übergab sich.

»Es war ein bisschen viel.« Milan stand neben ihm und hielt ihn an den Schultern fest. »Mach Pause, ich fahre weiter.«

»Du hast keine Papiere«, sagte Grau spuckend.

»Scheiß drauf«, antwortete Milan sanft. »Wer ist denn hier schon unterwegs, außer den Kühen?«

»Der Teufel«, sagte Grau hustend, »der Teufel ist ein Eichhörnchen.«

Milan lachte und schlug ihm auf die Schulter. Dann wandte er sich ab und sagte erstickt: »O nein!«

Die Frau war schon zehn oder fünfzehn Meter weg, und sie war sehr schnell. Sie rannte in die Wiese hinein, glitt förmlich über das Gras. Milan spurtete und rannte nicht hinter ihr her, sondern parallel zu ihr. Als sie eine lange Kurve lief, war er im Vorteil und warf sich vorwärts. Sie fielen beide und es gab ein groteskes Durcheinander von Armen und Beinen, ehe Milan sich aufrappelte und die Frau liegen blieb.

»Meike«, sagte Grau hastig, »bleib sitzen, bleib um Gottes willen sitzen.«

Aber sie hörte ihn nicht. Sie stieg aus dem Wagen, schlenderte so vor sich hin und summte irgendetwas. Dann ging sie zurück zum Auto, setzte sich auf den Beifahrersitz und klappte die Sonnenblende herunter. Sie besah sich im Spiegel und versuchte, die Dreckschlieren von ihrem Gesicht zu wischen.

»Das kannst du immer noch machen«, redete Grau auf sie ein. »Du musst erst einmal nach Hause und zur Ruhe kommen. War … war es schlimm?«

»Es gab nichts zu essen«, sagte sie seltsam heiter. »Sie hatten einfach nichts zu essen im Haus. Sag Sundern, ich komme später.«

»Na klar sage ich es ihm«, versicherte ihr Grau. »Komm, setz dich in den Wagen, setz dich nach hinten, wir müssen weiter.«

Sie ließ ihr Gesicht schmutzig, wie es war, stieg aus, baute sich vor Grau auf und fuhr ihm zärtlich mit der rechten Hand durchs Gesicht. »Es wird schon alles ins rechte Lot kommen«, sagte sie.

»Das denke ich auch«, sagte er, wusste aber genau, dass sie gar nicht ihn meinte.

Sie ließ sich folgsam auf die Rückbank fallen und faltete die Hände im Schoß wie ein Mädchen vor hundert Jahren auf einer Kutschfahrt.

»Ich sollte dir ein Pflaster auf die Wunde tun«, sagte Grau und deutete auf ihr Knie.

»Oh«, sagte sie und lächelte. »Meike ist gefallen.«

Etwas Speichel lief ihr über das Kinn und tropfte auf die zerrissene Bluse.

Milan kam zurück und trug die fremde Frau in seinen Armen. Er legte sie auf die nasse Wiese. Als Grau empört etwas sagen wollte, grinste er: »So wird sie schnell wieder wach. Wir müssen weiter, nicht wahr? Kotzt du noch?«

»Es geht schon«, sagte Grau. »Meike ist in einem schlechten Zustand. Sie ist weggetreten, sie kriegt nichts mit. Gib ihr deinen Pulli. Lass uns fahren.«

Die Frau wurde wach und stand auf.

»Wer sind Sie?«, fragte Grau.

Sie antwortete nicht, sie strich sich durch die roten Haare und betrachtete Meike.

»Sag, wer du bist«, forderte Milan. »Frau Namenlos, heh?«

»Namenlos«, sagte sie etwas rau. »Ich will zu Sundern, ich sage nichts.«

»Gut«, nickte Grau. »Wir wollen auch zu Sundern. Und laufen Sie nicht noch mal weg. Wir könnten sonst etwas ungemütlich werden.«

Die Frau nickte und setzte sich neben Meike. Sie hatte einen dunklen herben Teint, der langsam trocknende Schlamm wirkte an ihr wie eine dekorative Kriegsbemalung. Sie schien keine Furcht zu haben, zumindest wirkte sie ziemlich gelassen.

Plötzlich wurde Meike sehr unruhig. Sie rieb sich verbissen die Innenseite des rechten Unterarms, ihre Augen waren voller Angst.

»Halt an!«, befahl Milan. »Irgendetwas ist mit ihr.«

Grau bremste, Milan stieg aus und machte den hinteren Wagenschlag auf. »Komm, lass mal sehen. He, sie hat Einstiche. Zwei.«

»War es Heroin, Meike?«, fragte Grau verkrampft und laut. Er sah sich nicht einmal um.

»Ja«, sagte sie wie ein Kind. Dann stieß sie Milan beiseite, setzte sich sehr aufrecht und legte Grau beide Arme von hinten um den Hals.

»War es wirklich Heroin?«, wiederholte Grau.

»Ja, ja, Nase hat das jedenfalls behauptet.«

»Dann ab in ein Krankenhaus«, bestimmte Grau. »Kann sein, dass der Kreislauf wegsackt. Das riskiere ich nicht. Milan, wie heißt die nächste Stadt?«

»Penzlin. Sieht groß genug aus für ein Krankenhaus.«

»Also los«, sagte Grau. Ihre Hände fühlten sich gut an, sie waren sehr warm und lebendig, und sie verwirrten ihn. »Wir holen dich da raus«, setzte er hinzu. Er fuhr sehr schnell. »Ruf die Auskunft an«, sagte er. »Ich brauche in Berlin die Nummer einer alten Kollegin. Warte mal, sie heißt Helga Friese. Genau, Helga Friese.«

»Wieso denn das? Soll ich lieber fahren?« Milan war nervös.

»Kein Risiko«, mahnte Grau. »Helga Friese.«

Milan telefonierte und Grau fuhr höchst konzentriert. Meike hatte noch immer die Arme um seinen Hals geschlungen.

Sie redete wie ein Kind. »Sie hatten nichts zu essen in dem Haus. Nur Bier. Ich mag kein Bier.«

»Ich hab die Nummer«, sagte Milan. »Soll ich wählen?«

Grau nickte. Dann nahm er den Hörer und musste eine Weile warten. Ein Mann sagte sehr ärgerlich: »Verdammt noch mal, wer ist da?«

»Entschuldigung«, haspelte Grau.

»Wissen Sie denn, wie viel Uhr es ist?«

»Irgendwas um vier Uhr morgens. Ich hätte gern Helga Friese. Kann ich sie bei Ihnen erreichen? Es ist sehr dringend, ein beruflicher Notfall.«

Der Mann wurde ein wenig freundlicher. »Helga hat schlechte Laune und einen dicken Kopf. Ich weiß nicht, ob sie mit Ihnen sprechen will.«

»Sie muss«, beharrte Grau eigensinnig.

Der Mann sagte halblaut: »Es ist beruflich, sagt er. Du solltest in die Welt zurückkehren und dem Schnaps abschwören. Hier ist die Welt.« Offensichtlich hielt er ihr den Hörer hin.

»Ich will die Welt nicht«, sagte sie nörgelnd, aber dann war sie dran und krächzte: »Ja, bitte?«

»Grau hier, falls du dich erinnerst, Grau in Bonn, Jobst Grau.«

»Traum meiner schlaflosen Nächte.« Sie schien durchaus erfreut.

»Ich recherchiere in Berlin eine haarige Geschichte. Ich kann jetzt nicht viel erklären. Kannst du mir helfen? Du wirst normal bezahlt, ich würde sagen, ich gehe mit tausend Dollar in Vorschuss. Ist das okay?«

»Oh! Grau-Schätzchen, was sagst du da? Moment mal, ich gehe in mein Arbeitszimmer.«

Grau grinste, glücklicherweise verlief die Straße schnurgerade. Dann war sie wieder da.

»Arbeitest du noch immer frei?«, fragte er.

»Ja«, sagte sie. »Aber ehrlich gestanden habe ich die Nase voll. Ich warte auf einen Hammer, verstehst du? Wenn ich einen Hammer habe, kriege ich auch einen festen Job. Ich könnte dann in ein eigenes Bett wechseln, wenn du weißt, was ich meine …«

Grau spürte den Atem von Meike in seinem Nacken.

»Ich verstehe. Aber er macht doch einen ganz netten Eindruck.«

»Er ist ja auch nett«, sagte sie gedehnt. »Aber unter uns: Es ist einfach beschissen, immer auf die Fünfmarkstücke vom eigenen Macker angewiesen zu sein, oder? Grau, ich tue alles für dich, also, kriege ich einen Hammer?«

»Zuerst brauche ich eine Wohnung. Niemand darf wissen, wo sie ist und dass ich drin bin. Die Wohnung sollte mindestens vier Betten haben und möglichst …«

»Was hat das mit unserem Job zu tun? Wohnung in Berlin? Bist du wahnsinnig?«

»Es gehört zum Hammer«, sagte Grau ruhig, »lass dir was einfallen. Ich bezahle notfalls auch das Hotel, wenn irgendwelche Leute uns die Wohnung zur Verfügung stellen. Das ist Punkt Nummer eins. Punkt Nummer zwei, und der ist ungleich wichtiger: Hast du Beziehungen zum Landeskriminalamt? Drogen?

Ich brauche eine genaue Analyse der letzten acht bis zehn Wochen. Die größten Gruppen. Wer verscheuert was? Gab es Bewegung auf dem Kokainmarkt? Ist es wahr, dass jemand mit einem halben Zentner reinem Kokain und zehn Millionen Dollar in bar in die Szene der Stadt eingestiegen ist? Alles notiert?«

»Zehn Millionen Dollar in bar? Bist du verrückt?«

»Nicht die Spur. Dann rufst du sofort nach neun Uhr das Presseamt des Auswärtigen Amtes in Bonn an und fragst nach einem jungen Diplomaten namens Ulrich Steeben, Dr. Ulrich Steeben. Du darfst aber nicht sagen, dass dieser Mann mit den Dollars und dem Koks in Berlin gelandet ist. Das ist dein Hammer. Du fragst einfach ganz harmlos, wo der abgeblieben ist.«

»Ist das wahr? O Gott, Grau, du machst eine glückliche Frau aus mir! Das ist viel besser als ein langer Orgasmus auf dem Wasserbett, oh, Verzeihung. Wirklich ein Diplomat? Kein Irrtum?«

»Besorg mir eine Bleibe. Erst dann recherchierst du.«

»Moment, Moment, Moment, nicht einhängen, bitte. Grau, es hängt so verdammt viel davon ab. Ich kann hier bei der ARD in Berlin einsteigen. Ich kann eine Kamera und ein Team kriegen.«

»Gut, einverstanden.«

»Kann ich meine Kontakte in der Szene anzapfen?«

»Du kannst alle fragen, nur einen nicht: Sundern. Geht das klar?«

»Okay. Sundern ist also dein Mann. Einverstanden. Kann ich Nase fragen?«

»Das geht nicht mehr, der ist gerade explodiert. Ich war Zeuge: Er ist mausetot. Aber du kannst mit dem Kamerateam an einen bestimmten Ort fahren. Du musst allerdings verdammt schnell sein. Da steht ein Bauernhof in Flammen. Müritzsee, zwischen Klink und Grabenitz, notiert? Und da drin liegt unter anderem die Leiche von Nase. Wie heißt Nase eigentlich mit bürgerlichem Namen?«

»Erwin. Erwin Habdank. Wirklich tot? Was machst du da für eine Geschichte? Kann ich die Wohnung von jemand anderem besorgen lassen? Unter dieser Telefonnummer hier? Klink und Grabenitz habe ich.«

Meike sagte plötzlich erschreckt: »Mir ist so schlecht.« Sie sagte es wie ein fieberkrankes Kind.

»Ich muss aufhören«, sagte Grau hastig. »Ich garantiere dir die Geschichte. Bis später. Falls du ein Funktelefon hast, merk dir diese Zahlen.« Er gab ihr die Nummer und kappte die Verbindung.

»Zwei Kilometer noch«, sagte Milan. »Besorgt sie eine Wohnung? Wer ist sie denn überhaupt?«

»Ein guter Typ«, sagte Grau. »Sie ist nach Berlin versetzt worden, weil ihre Zeitung fand, dass sie zu respektlos mit den Bonner Amtsinhabern umspringt. Sie hilft uns. Ich erkläre dir das noch genau.«

»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Milan und nickte heftig. »Du machst jetzt Druck, nicht wahr?«

»Überdruck«, sagte Grau. »Meike, wir sind da.«

Sie folgten den Schildern. »Lasst mich das machen«, sagte Grau. »Wir müssen schnell sein. Pass auf Frau Namenlos auf.«

»Sicher«, murmelte Milan, »sicher. Und wenn irgendetwas passiert?«

»Gas geben, abhauen«, empfahl Grau lapidar. Er ließ den Wagen über einen schmalen Weg zur Ambulanz rollen.

Die Schwester am Empfang war etwa sechzig, und offenbar mochte sie die Nachtschicht nicht. Sie wirkte ziemlich mürrisch.

»Wir hätten gern einen Arzt«, sagte Grau munter und mit einem freundlichen Lächeln.

Sie sah nur knapp hoch. »Aha. Und weshalb, bitte sehr? Unfall?«

»Nein, weil der dringende Verdacht besteht, dass dieser Frau Heroin gespritzt wurde.«

»Polizei«, sagte sie scharf.

»Ist das hier ein Krankenhaus oder eine Polizeiwache?«, stellte Grau eine schnelle Gegenfrage.

»So einfach ist das nicht, junger Mann. Bei Verdacht auf Heroin müssen wir die Polizei einschalten.«

»Zunächst einmal müssen Sie für den betroffenen Menschen sorgen«, belehrte Grau sie grob. »Hier ist mein Presseausweis. Ich würde Ihnen raten, verdammt schnell zu sein. Sonst werde nämlich ich die Polizei rufen.«

Sie wollte protestieren, aber sie wusste, dass er recht hatte. Sie griff zum Telefon. »Ambulanz. Dr. Hoffmann, kommen Sie, bitte.« Sie knallte den Hörer auf und sagte giftig: »Ihren Ausweis, bitte. Ist die Dame versichert? Und wo?«

»Sie ist versichert, aber ich zahle bar.« Er griff in die Tasche und legte einen Geldschein hin. »Können Sie quittieren?«

Sie stotterte augenblicklich: »Das darf ich gar nicht, das kann ich nicht. Sie müssen wiederkommen, wenn die Kasse geöffnet hat.«

»Du lieber Gott«, sagte Grau ergeben und verdrehte die Augen zum Himmel.

Ein junger Mann in weißem Kittel kam, gähnte ungeniert und fragte: »Hier stirbt doch keiner oder wem geht es schlecht?«

»Meiner Freundin«, sagte Grau schnell. »Wahrscheinlich wurde ihr Heroin gespritzt. Haben Sie den Schnelltest?«

Der Mediziner nickte, kratze sich am Kinn und sagte: »Haben wir. Wieso? War sie bewusstlos? Unfall? Oder haben Sie an einer Orgie teilgenommen?«

Da sagte Meike: »Hier sind die Einstiche.«

Der Arzt nahm ihren Arm, glitt mit der Handfläche über die Armbeuge, fasste an ihren Kopf, legte ihn schief, sagte: »Augen weit auf!«, und blickte aufmerksam auf ihre Pupillen. »Kann sein«, sagte er dann. »Wer war das Schwein? Und was ist das für eine Wunde am Knie?«

»Genau wissen wir es nicht«, sagte Grau. »Sie ist verdammt wacklig auf den Beinen.«

»Das sind sie immer bei Heroin«, sagte der Arzt.

»Na, kommen Sie, holdes Wesen. Und Sie«, und er deutete mit dem Zeigefinger auf Grau, »Sie setzen sich hierher und drehen Däumchen.« Er ging mit Meike davon.

Grau musste nicht sehr lange warten. Nach einer Stunde kamen der Arzt mit Meike zurück.

»Es war Heroin. Eine schwache Konzentration oder aber schlechter Stoff. Ich würde Ihnen raten, sie zur Beobachtung hierzulassen. Zwei, drei Tage. Die Wunde am Bein ist harmlos.«

Grau schüttelte den Kopf. »Geht nicht.«

»Was machen wir mit den Behörden? Wir brauchen ihre Personalien, das ist Vorschrift. Ich habe ihr etwas gespritzt, sie wird klar sein.«

»Sie hat keine Papiere bei sich«, sagte Grau. »Reichen meine?«

»Selbstverständlich. Welche Kasse?«

»Ich wollte bar bezahlen, aber ich darf nicht«, sagte Grau lächelnd.

Der Arzt sah die Krankenschwester strafend an und murmelte: »Du lieber Himmel, wann werdet ihr begreifen, worauf es ankommt? Also, Ihre Personalien. Sie erhalten dann Bescheid und die Rechnung. Wahrscheinlich gibt es ein Verhör bei der Kripo.«

»Macht gar nichts«, sagte Grau cool und gab gehorsam seine Personalien an. Es würde sehr lange dauern, bis sie feststellten, dass er in Bonn nicht mehr vorhanden war.

Als sie durch die Vorhalle gingen, nahm Meike seine Hand. »Du hast ein Abonnement auf mich.«

»Wie hat Nase dich erwischt?«

»Ganz einfach. Ich habe für Sundern Klamotten geholt, ich kam aus dem Haus, sie packten mich und schubsten mich in ihr Auto. Sundern ist ein friedlicher Mensch, aber jetzt wird er Nase töten.«

»Nase ist bereits tot«, sagte Grau, blieb stehen und sah sie eindringlich an. Er verstand erst jetzt die Folgen eines Schocks. »Weißt du denn nicht mehr, was passiert ist?«

»Das Haus brannte.« Sie starrte auf irgendeinen fernen Punkt hinter seiner Schulter. »Und Spritzen. Heroin. Das kam von Nase.«

»Ich werde es dir später erzählen«, sagte er sanft. »Sundern wartet.«

»Grau, Grau, geh nicht so schnell, warte mal. Kann ich nicht bei dir bleiben? Ich meine, ich habe Angst …«

»Sicher geht das«, murmelte er und lächelte dann. »Aber sicherer als bei Sundern oder Mehmet ist es auch nicht.«

»Du bist kein Journalist, nicht wahr?«

»Oh, Scheiße!«, fluchte Grau. »Ich bin wirklich Journalist, leider. Komm jetzt, wir müssen weiter. Und, verdammt noch mal, hast du nicht irgendein Ersatzhemd oder so was?«

Zehn Minuten vor sechs Uhr bog er von der sechsundneunzig nach links ab, Richtung Sachsenhausen. Sundern und Mehmet erwarteten sie auf einem kleinen Parkplatz mit vier Autos. Neben Geronimo waren noch vier Männer mit von der Partie, die wild und entschlossen aussahen.

»Alles Mercedes: gleicher Typ, gleiche Farbe«, flüsterte Milan bewundernd. »Das sind Profis. Wenn sie einmal um den Block fahren, weißt du hinterher nicht mehr, wer in welchem Auto war.«

»Bleib sitzen, Meike«, sagte Grau ganz ruhig. »Milan, nimm Frau Namenlos. Wir geben sie ihnen.«

Sundern und Mehmet kamen sehr schnell auf sie zu. Sundern sagte hastig: »Lieber Himmel! Wenn ich nicht wüsste, dass Sie fremd sind, müsste ich annehmen, Sie hätten es arrangiert.«

»Ich kann mir Konstruktiveres vorstellen«, entgegnete Grau kühl. Er sah, dass Sundern sein Haar hinten zu einem kurzen Schwanz zusammengebunden hatte. Mit einem fröhlichen bunten Band. Warum habe ich das vorher nicht wahrgenommen?, fragte er sich verwirrt.

»Hier ist die Frau, die Nase in die Luft gejagt hat. Sie beantwortet keine Fragen, hat keinen Namen, keine Papiere, sie …«

»Es ist Mathilde aus Amsterdam«, erklärte Sundern tro-cken. »Wir haben das rausgekriegt. Hallo, Mathilde. Wissen Sie, was Mathilde macht? Sie killt. Ausgebildet in den Lagern von Gaddhafi. Sie soll gut sein, besser als jede Terroristin der IRA. Wir schicken sie wieder heim.«

»Grau«, sagte Mehmet und umarmte ihn. »War das Hellseherei?«

»Es war weitaus weniger«, sagte Grau trocken. »Hören Sie mal, Sundern, ich mache Ihnen einen fairen Vorschlag. Wir müssen abtauchen, wie Sie sich vorstellen können. Ich möchte Meike mitnehmen, bis sie okay ist. Sie will es selbst. Sie ist angeschlagen. Wir nehmen sie mit und wir melden uns. Können wir das Auto und das Telefon haben?«

Sundern kniff die Augen zusammen. »Einverstanden. Sie sind der Held.«

»Und keine Babysitter«, schob Grau nach. »Niemand, der uns verfolgt und irgendwo herumlungert.«

Sundern war ärgerlich, hatte sich aber gut im Griff. »Das ist nicht meine Welt. Stimmt das mit dem Heroin bei Meike und ist Nase tatsächlich tot?«

Grau nickte. »Ja.«

»Dann brauche ich es nicht mehr zu tun«, sagte er trocken. »Also, kein Begleitkommando für Sie. Aber Sie melden sich! Ist das klar? Sie müssen sich unbedingt melden!«

»Ich muss gar nichts«, sagte Grau. »Solange ich dieses verdammte blutige Spiel nicht durchschaue, muss ich gar nichts. Wann reden wir?«

»Vermutlich wollen Sie jetzt erst einmal abschalten. Wie wär’s denn mit heute Nachmittag gegen vier?«

»Einverstanden. Aber bitte an einem Ort, an dem man Sie für gewöhnlich nicht findet.«

»Ich lasse Sie von Mehmets Fahrer abholen, dann …«

»Sie lassen mich gar nicht abholen, Sie werden nicht wissen, wo wir sind. Und das ist verdammt gut so. Also sechzehn Uhr. Wo?«

»Im Gewimmel bei Kranzler. Passt das?«

»Das ist gut. Dann noch etwas: Ich brauche Sie wahrscheinlich noch, Sundern, damit ich endlich kapiere, was hier eigentlich läuft, und deshalb sollte Ihnen jetzt besser nichts zustoßen …«

»Sieh mal einer an: Er liebt mich!« Sundern produzierte vollkommen lautlos ein strahlendes Lachen. Mehmet kicherte und rieb sich erregt das Kinn.

Selbst Grau musste grinsen. »Also, Sie Sauhund, passen Sie gut auf sich auf. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass der Verfassungsschutz hinter Ihnen her ist, der Bundesnachrichtendienst auch, ganz zu schweigen von der amerikanischen Drug Enforcement Administration. Denken Sie also nicht nur an Ihre Brüder im Geiste.«

Sundern machte kein Witzchen mehr, er lächelte nicht einmal: »Das finde ich fair. Aber die, die mit den Drogen zu tun haben, sind nicht meine Brüder.«

»Haben Sie die Dollars und den Stoff?«

Sundern schüttelte entschieden den Kopf. »Wissen Sie, ich hätte für Meike das Doppelte oder Dreifache davon hingelegt. Aber ich habe es nicht, ich habe nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wo das Zeug sein könnte. Und um gleich die nächste Frage zu beantworten: Niemand aus meinem Umfeld weiß, wo dieser Ulrich Steeben steckt.«

Er grinste plötzlich, und Grau hatte erneut den Eindruck einer fröhlichen Explosion.

»Sie sind in der Klemme, nicht wahr? Sie wissen nicht, was Sie White sagen sollen oder Thelen, denn Sie trauen denen nicht mehr.« Er nickte nachdenklich. »Es ist ein Scheißspiel, Grau, und Sie sind nichts weiter als ein lächerlicher Bauer. Sie wurden missbraucht, und dass Sie noch leben, ist reiner Zufall.«

»Sie wissen also über White Bescheid?«

»Selbstverständlich.« Er sah Mehmet an. »Sie sind nicht gerade auf den Kopf gefallen.«

»Hör zu«, sagte Mehmet eindringlich. »Was immer du brauchst, ruf mich an. Du kriegst es. Ob Männer, Frauen, Kanonen, Bratheringe, Kebab, Maschinengewehre …« Er lachte glucksend.

»Ich brauche dringend neue Papiere für meinen Angestellten Milan«, sagte Grau. »Geht das? Kompletter Satz: Reisepass, Personalausweis, Führerschein aller Klassen. Die Papiere müssen echt sein.«

»Ich notiere«, sagte Geronimo eifrig.

»Milan heiße ich«, sagte der Angestellte. »Nachname Sarajevo …«

»Da ist noch etwas«, sagte Sundern. »Die Berliner Rauschgiftfahnder sind auch hinter Ihnen her.«

»Ich bin halt begehrt«, witzelte Grau. »Können Sie ein paar Koffer mit Klamotten für Meike packen? Und noch etwas, Sundern: Ich habe die Information über Steeben direkt einer Kollegin zugespielt, die jetzt recherchiert …«

»Warum das?«, fragte Sundern heftig. Er schien nicht eben erfreut.

»Ich will Druck machen, ich will erleben, was geschieht.«

»Das könnte aber ins Auge gehen«, dachte Mehmet laut.

»Nicht unbedingt«, überlegte Sundern. »Dann kommt der Rest der Ratten aus den Löchern. Geronimo, wann kann Milan die Papiere haben?«

»Vierundzwanzig Stunden«, sagte Geronimo. »Erstklassige Papiere, nix gefälscht.«

»Wir fahren dann«, befahl Grau.

In diesem Moment kam Meike, ging an ihm vorbei und stellte sich vor Sundern. »Ich konnte nichts machen«, sagte sie mutlos.

»Das ist schon gut.« Sundern fasste sie nicht an. »Du musst nur anfangen zu überlegen.«

»Mache ich«, nickte sie, drehte sich um und ging wieder.

»Sie war Bestandteil des Planes, nicht wahr?«, fragte Grau.

Sundern nickte. »Es sieht ganz so aus. Aber sie will es nicht wahrhaben. Wir sehen uns.« Er legte Mehmet kumpelhaft den Arm um die Schulter und sie schlenderten zu ihren Autos.

Geronimo kniff ein Auge zu und grinste. »Du bist vielleicht eine Nummer, Mann.«

Sundern war schon zwanzig Meter entfernt, als er sich noch mal umdrehte und sehr laut »Grau!«, rief. Er rieb sich mit dem rechten Zeigefinger den Nasenrücken. »Ich will nicht aufdringlich sein, aber Sie sollten mal in Ruhe über die Einzelheiten nachdenken. Es scheint bewiesen, dass dieser Steeben alias Markus Schawer tatsächlich samt Diplomatenkoffern mit dem Flieger in Berlin angekommen ist. An dieser Tatsache ist nicht zu rütteln, außerdem hat eine mir geneigte Dame bei United Airlines das bestätigt.

Können Sie folgen? Gut. Der Mann fährt also noch zum Hotel und ist anschließend spurlos verschwunden. Woher wissen wir eigentlich, dass in einem der Koffer wirklich zehn Millionen US-Dollar waren? Und woher wissen wir, dass in einem anderen Koffer wirklich ein halber Zentner reines Kokain war?«

»Ich weiß es von White.« Grau konnte seine Betroffenheit kaum verbergen.

Sundern nickte und lachte leise. »Dann müssen Sie überlegen, warum White so etwas behauptet und was es ihm bringen würde, wenn es eine Finte ist.«

»Das ist doch irre!«, rief Grau.

»Eben nicht«, gab Sundern zurück und stieg in sein Auto.

Grau startete den Wagen und bat Milan: »Ruf die Nummer dieser Kollegin an, wir müssen erst mal hören, wo unsere neuen Betten stehen.«

Milan reagierte überhaupt nicht, fummelte nur an seinem Gurt herum und schnallte sich an. Einfach keine Antwort.

»Ruf doch da an«, wiederholte Grau. »He, Milan, träumst du?«

»In vierundzwanzig Stunden bin ich wieder ein Mensch.«

Grau sah, dass ihm die Tränen über das Gesicht liefen, und er nahm das Telefon und wählte die Nummer von Helga Friese.

Da war eine jugendliche Stimme am Telefon, die gänzlich desinteressiert vor sich hin schwadronierte: »Oh, das ist gut, dass du anrufst. Also, ihr könnt hier pennen, Prenzlauer Berg, Dimitroffstraße 155, 3. Hinterhof, zweite Etage. Ich geh jetzt, weil ich in die Penne muss. Ich verstecke den Schlüssel unter der Matte.«

»Das ist prima«, sagte Grau, »also ab in die Dimitroffstraße!«

Milan hockte in seinem Sitz und drehte sich eine Zigarette. »Vielen Dank, Grau.«

»Wenn Geronimo das selbst in die Hand nimmt, sind die Papiere auch echt«, behauptete Meike voll Stolz. »Du fährst zurück auf die Schnellstraße, dann stadteinwärts. Ich will mal wieder an einem Duschknopf drehen.«

»Und ich möchte Sigrid anrufen«, bat Milan.

»Das wäre jetzt nicht gut«, widersprach Grau.

»Ja, du hast recht. Gehe ich mit ins Kranzier?«

»Auf jeden Fall.« Grau nickte.

»Ich will auch mit«, sagte Meike im Tonfall eines trotzigen Kindes.

»Auf gar keinen Fall«, lehnte Grau ab. »Das Risiko ist zu hoch. Wir werden nicht ein drittes Mal Schwein haben. Was hat eigentlich Nase gesagt? Was genau wollte er denn?«

»Ach weißt du, Nase war eine Ratte. Nase war neidisch auf Sundern, er hasste Sundern. Seit zwanzig Jahren oder so. Er hat gedacht, er könnte Sundern jetzt endlich in den Dreck reiten. Wie ist er eigentlich gestorben?«

»Es hat ihn zerrissen«, murmelte Milan.

Sie ist unanständig schön, dachte Grau. Sie ist eine Frau, die immer ein wenig nackt wirkt, gleichgültig, was sie trägt. Warum begehre ich sie so sehr?

»Ich setze euch vor dem Haus ab«, sagte er. »Ich bringe den Wagen zu irgendeiner Tanke. So ein Auto fällt zu sehr auf.«

Er entdeckte in der Nähe eine Tankstelle und bat den Mann hinterm Tresen, den Wagen vollzutanken, zu waschen und das Öl zu wechseln. Dann schlenderte er in die Wohnung. Die Stadt war jetzt wach.

Die Wohnung war groß und geräumig und mit endlosen Kolonnen von Grünpflanzen und Ikea-Kiefernregalen geradezu vollgestopft. Im Wohnzimmer lag ein Zettel auf dem Tisch: »Ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt. Ich melde mich. Helga.« Milan machte sich in der Küche zu schaffen und suchte einen Kaffeefilter. »Meike ist schon im Bad«, sagte er. »Ich nehme das Kinderzimmer, ihr kriegt das Schlafzimmer.«

»Ich will aber allein sein«, sagte Grau muffelig. Er ging ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen. Er starrte an die Decke und wusste, dass er nicht einschlafen würde, weil er nervös und viel zu aufgeregt war. Seine Fantasie machte ihm schwer zu schaffen: Sie umarmte seinen Körper mit ihren unendlich langen Beinen. Er schalt sich idiotisch, närrisch und kam zu der durchaus vernünftigen Einsicht, dass er überreizt war.

Milan hockte sich in einen Sessel. »Ich habe Sigrid angerufen. Sie sagt, sie will mich sehen. Kann sie kommen?«

»Sicher«, sagte Grau. »Aber sie soll darauf achten, dass ihr niemand folgt.«

»Aber sie ist doch für die nicht wichtig«, wandte Milan ein.

»Wer weiß das denn? Wir haben es mit ein paar Parteien zu tun, und jede hält sich für sehr wichtig.«

»Was heißt, dass Meike ein Teil des Planes ist? Ich habe das nicht verstanden.«

»Ich auch nicht so ganz«, gab Grau zu. »Wir werden es spätestens dann erfahren, wenn Sundern mit mir spricht.«

»Ruf diesen White an und erzähl ihm von Nase. Vielleicht …«

»White wird es längst wissen. Ich will jetzt nicht mit White sprechen, ich bin wütend auf ihn. Ich würde ihm auf den Kopf zusagen, dass er ein Arschloch ist. Das erspare ich mir lieber, vielleicht können wir ihn noch irgendwie für unsere Zwecke einspannen. Übrigens: Du hast doch gesagt, du hast den toten Nase gesehen. Wie tot war er wirklich?«

»Also, du Journalist: Einer flog durch das Fenster, okay? Der war sofort tot. In dem Raum, in dem sie gesessen haben, waren keine Leichen, nur Teile. Die Teile von zwei Männern. Nase muss tot sein, okay? Hast du Angst, er steht plötzlich in der Tür und schießt?«

Grau nickte. »Natürlich habe ich daran gedacht. Wie hast du das eigentlich in Sarajevo durchgestanden?«

»Das weiß ich nicht.« Milan grinste. »Aber ich bin jetzt hier, und gleich kommt Sigrid.« Er ging zu einem Regal und angelte nach dem Telefonhörer.

Grau stand auf und ging zur Badezimmertür. Meike war offenbar gut gelaunt, denn sie sang den Wirtinnenvers: »Frau Wirtin hatte einen Schmiehd, der hatte ein vierkantig Gliiehd …«

»He, ich muss mal!«, schrie er.

»Wie bitte? Grau? Was ist?«

»Mir droht Verdauung«, sagte er.

»Ach so.« Sie kam heraus, hatte sich in ein Badetuch gewickelt und ihre großen Augen waren erstaunlich klar. »Ich bin sauber, ich rieche gut.«

Grau ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte ein gutes Dutzend Handtücher gebraucht, und er musste sie zu einem Haufen zusammenwerfen, ehe er weitergehen konnte. Auf dem geschlossenen Toilettendeckel lag die silberne Dose mit dem Kokain. Daneben stand eine Flasche Wodka ohne Glas.

Grau räumte die Utensilien auf die Fensterbank und pinkelte. Er atmete hastiger und spürte Wut im Bauch. Er nahm die Flasche und goss den Schnaps ins Waschbecken. Das Döschen mit dem Koks warf er zum Fenster hinaus. Dann wusch er sich die Hände, trocknete sie ab und öffnete die Tür.

Sie stand da und sah ihn an. Sie wusste genau, was er gerade gemacht hatte. Sie sagte leise: »Ich kann das alles nicht mehr ertragen.«

»Solange du bei mir bist, wirst du das Scheißzeug nicht anrühren«, sagte er streng. »Ich dulde das nicht.«

Sie stand da und weinte lautlos. Dann ging sie an ihm vorbei und schluchzte: »Glaubst du, dass ich mir irgendein Hemd aus dem Schrank nehmen kann?«

»Sicherlich«, sagte er heiser und ging ins Wohnzimmer zurück. Er war völlig verkrampft, griff nach einem Aschenbecher und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen eine rotbraune Tonvase, die auf dem Boden stand.

»He!« Milan fand das offensichtlich wunderbar.

»Ich will diese Menschen nicht«, sagte Grau.

»Dann musst du gehen«, riet Milan. »Einfach nach Hause gehen. Ich jedenfalls schlafe jetzt eine Runde.«

Das Funktelefon in Graus Jackentasche fiepste, er holte es heraus und meldete sich so vorsichtig, als könnte es ihren Aufenthaltsort verraten.

Es war Sundern. Er begann sachlich: »Wie oft haben Sie mit White und Thelen gesprochen?«

»Mit White zweimal. Beim zweiten Mal war Thelen dabei.«

»Hat White Ihnen irgendetwas Persönliches erzählt? Irgendetwas? Hat er in Washington gebaut? Ein Flugzeug gekauft, was weiß ich.«

»Nein. Er sagte, er habe ein Häuschen in Georgetown und sehe seine Familie selten, eigentlich gar nicht. Er hat Kummer, ja, natürlich, Moment. Er sagte, seine Frau wolle sich scheiden lassen. Er sagte auch, dass seine Sekretärin behauptet, sie bekomme ein Kind von ihm. Wieso fragen Sie? Was wollen Sie damit?«

Sundern überlegte einen Augenblick. »Ich möchte der Schwarz-Weiß-Färbung Ihrer Welt ein paar Schatten hinzufügen. Ich melde mich wieder.«

Grau legte sich wieder auf das Sofa und starrte an die Decke. Langsam wurde er ruhiger, schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Irgendwann spürte er befriedigt, dass er schwerer wurde und wieder gleichmäßig atmete.

Meike legte sich neben ihn und sagte: »Wieso glaubst du eigentlich, ich könnte das durchhalten, ohne etwas zu nehmen? Ich meine, diese Welt ist doch nicht normal. Rutsch mal ein bisschen zur Seite.«

Er rückte ein kleines bisschen. Sie trug ein viel zu großes Männerflanellhemd, sonst nichts.

»Ich habe kein Recht dazu, ich weiß«, fing er langsam an. »Ich will nur noch ein paar Dinge erfahren, dann gehe ich wieder. Also, es tut mir leid. Wenn ich dir irgendwie neues Kokain besorgen kann, dann tue ich es.«

»Das ist nicht so wichtig«, entschied sie. »Wohin gehst du denn? Zurück nach Bonn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Und was willst du erfahren?«

»Warum White mich aufs Kreuz gelegt hat.«

»Ist das denn so wichtig?«

»Nein, eigentlich nicht. Er ist eben ein berufsmäßiger Aufs-Kreuz-Leger. Nein, es ist nicht wichtig.«

»Vielleicht bin ich ein bisschen wichtig?«

»Ja«, sagte er zögernd. »Durchaus.«

»Dann wäre es vielleicht auch wichtig, mich in den Arm zu nehmen.«

»Das kann man so sehen«, sagte Grau ganz starr. »Aber diese gottverdammte Couch ist gegen uns.«

»Da ist ein Schlafzimmer«, sagte sie. »Ich war schon drin. Nichts Besonderes, aber ein Schlafzimmer.« Sie hatte ein ganz weißes Gesicht. »Ich fühle mich so beschissen, Grau. Du musst mich nur in den Arm nehmen.«

»Das Schlafzimmer ist acht Meter weg«, murmelte Grau. »Auf acht Metern geht verdammt viel kaputt.«

Sie grinste plötzlich fröhlich. »Du hast recht. Schlafzimmer töten den Nerv. Besonders das Schlafzimmer hier. Du hast ja noch Schuhe an, warte mal, und wieso sitzt dein Gürtel so stramm, du musst ja Bauchschmerzen haben.« Sie war neben ihm und über ihm und unter ihm, sie kniete, sie stand, sie schnaufte und zerrte und fluchte und lachte.

Grau sah Milan in der Tür auftauchen, er sah, wie er ganz große Augen bekam und dann lautlos, zufrieden vor sich hin pfeifend, verschwand. Wahrscheinlich hatte er im Krieg lautlos pfeifen gelernt.

»Nun gib doch Ruhe, nackter kannst du mich nicht mehr kriegen.«

»Halt mich ganz fest, Grau. Ich will doch eigentlich nur festgehalten werden.«

»Festhalten reicht aber nicht.«

»Sei doch nicht so ekelhaft. Wieso hast du mich zweimal rausgeholt, he? Wieso?«

»Damit ich mit dir auf einer schmalen Couch lande«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Und jetzt sei doch endlich mal still.« Das Telefon klingelte.

»Das ist nicht wahr«, klagte sie. »Das ist einfach nicht wahr!«

»Sundern hier. Also: White hat keine Frau, die sich scheiden lassen will. White ist gar nicht verheiratet, er war nie verheiratet. Er hat auch keine Kinder. Seine Sekretärin, die angeblich ein Kind von ihm bekommt, ist siebenundfünfzig Jahre alt und führt den Spitznamen Bronco, weil sie einen erwachsenen Sohn hat, der als Rodeoreiter in Texas seine Brötchen verdient.«

»Sind Sie sicher?«

»Sie können es gerne gegenrecherchieren«, sagte Sundern trocken. »Das steht Ihnen frei. Bis gleich dann.«

Grau legte das Telefon auf den Tisch zurück.

»Sieh ihn dir an«, jammerte Meike. »Schlaff und blutleer.«

»Dann musst du das ändern«, sagte Grau unternehmungslustig.